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Als Käte Hamburger 1929 ihren Aufsatz „Novalis und die Mathematik" in einem Band aus der Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte zum Thema „Romantik-Forschung" veröffentlichte, war sie zwar nicht die erste, die auf Hardenbergs Beschäftigung mit der Mathematik aufmerksam machte, aber sie war die erste, die dieser Beschäftigung eine ernsthafte erkenntnistheoretische Bedeutung zusprach. Zu sehr widersprach die strenge Rationalität der Mathematik in den 1920er Jahren dem zeitgenössischen Bild der gefühlsbetonten, schwärmerischen, metaphysischen Romantik, der jegliches strenge Kalkül fremd zu sein hatte. Sich diesem, insbesondere durch Dilthey verbreiteten Bild entschieden entgegenstellt zu haben, ist das große Verdienst von Hamburgers komplexem Aufsatz.1 In dessen Zentrum steht der Versuch, „die Mathematikauffassung des Novalis mit Hilfe der neukantischen Erkenntnistheorie [zu] interpretier[en]" (Hamburger 9), wobei Neukantianismus hier die Marburger Schule um Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer meint, die es sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert unter anderem zur Aufgabe gemacht hatte, die modernen Naturwissenschaften im Anschluss an Kant erkenntniskritisch zu fundieren. Das entscheidende Bindeglied bildet dabei die Mathematik, vor allen Dingen die Infinitesimalrechnung und die mit ihr verbundenen Konzepte der Unendlichkeit, der Reihenbildung und des Kontinuums. Im Kern geht es der Marburger Schule darum zu zeigen, dass Erkenntnis nicht auf empirisch Gegebenes zurückzuführen ist, sondern ihren Ursprung im Bewusstsein hat, d.h. ein geistig erzeugtes Produkt ist (Albrecht 21).
Im Anschluss an Kant sehen die Neukantianer in der Mathematik die „vorbildliche Art des reinen Denkens" (zit. nach Albrecht 21)2, das ihnen zum Vorbild für alle anderen Erkenntnisformen wird, wobei insbesondere die von Leibniz und Newton begründete Infinitesimalrechnung im Zentrum ihrer Argumentation steht. Diese Konzentration auf die Integral- und Differentialrechnung bildet die zentrale Gemeinsamkeit mit Novalis, dessen intensive Beschäftigung mit der Mathematik im Rahmen seiner Freiberger Naturwissenschaftliche Studien (1798/99) und den zeitgleich entstandenen Materialien zur Enzyklopädistik—Das Allgemeine Brouillon (1798/99)—vielfach auf das Infinitesimalkalkül und die mit ihm verbundenen Überlegungen zum Unendlichen, Stetigen und Kontinuierlichen Bezug nimmt.3 Genau an diesem Punkt setzt Käte Hamburger ein, wenn sie konstatiert:
Die Weltanschauung des Romantikers Novalis fügt sich in das wissenschaftliche Bild des 19. Jahrhunderts als ein organisches Glied ein, und seine Einsicht in das Wesen der modernen Mathematik ist es, die von allen Romantikern ihm allein einen solchen Zusammenhang mit dem Jahrhundert der mathematischen Wissenschaften...