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I
Die ignatianischen Ejercicios espirituales (Exerzitien oder Geistliche Übungen) mögen den heutigen Leser*innen nicht unbedingt vertraut sein. Sie stehen in einer langen Tradition antiker und mittelalterlicher Meditationspraktiken, die dazu angelegt waren, mithilfe von geistigen Übungen die eigene Seele zu formen. Obwohl die Exerzitien auf zahlreiche Kontemplationspraktiken des Spätmittelalters rekurrieren und sogar als eine Art „compilation" (Sluhovsky 219) der spirituellen Seelenführer ihrer Zeit bezeichnet wurden, gelten sie als eines jener Gründungsdokumente der modernen Theologie, in denen sich eine theologiegeschichtliche ,Wende zum Subjekt' beobachten lässt. Umstritten bleibt jedoch, wie diese Wende zu bewerten ist. Während beispielsweise für den Theologen Karl Rahner die Geistlichen Übungen den Beginn eines modernen, unmittelbaren Gottesbezuges markieren, der das Subjekt dazu befähigt, selbstständige Entscheidungen bezüglich seiner Lebensführung zu treffen, wurden sie von Roland Barthes wegen ihrer disziplinierenden und reglementierenden Tendenzen stark kritisiert.
Der folgende Beitrag analysiert die verschiedenen Visualisierungsverfahren, die Ignatius in seinen Exerzitien entwickelte, damit seine Schüler*innen sich als Teilnehmer*innen räumlich in die biblische Passionsgeschichte hinein imaginieren und die Wirkungen des Lebens und Leidens Christus an sich selbst erfahren konnten. Er zeigt, dass Ignatius sich bei den in der antiken Rhetorik zum Einsatz kommenden Hilfsmitteln der loci und der imagines bedient, die er mit der von ihm entwickelten Technik der aplicación de los sentidos (Anwendung der Sinne) verknüpft und in das schöpferische Verfahren einer vista de la imaginación umgestaltet. Ignatius' minutiöse Instruktionen erweisen sich als wirkmächtige Verfahren, die es auch Lai*innen erlauben, mit einer gewissen Mühelosigkeit unsichtbare narrative Szenen vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen und einmal in Gang gesetze Imaginationsprozesse zu steuern. Es handelt sich um eine Meditationstechnik, die bereits zweihundert Jahre vor der theoretischen Anerkennung der Einbildungskraft im achtzehnten Jahrhundert zu deren praktischer Aufwertung führt.
II
Die Geistlichen Übungen, die Ignatius Anfang der 1520er-Jahre zusammenstellte und bis zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1548 kontinuierlich überarbeitete und verbesserte, sollten ursprünglich nicht in Form eines gedruckten Textes weitergegeben und gelesen werden, sondern ihre Wirkung dadurch entfalten, dass man sie ‚erfährt'. Um ihre mündliche Überlieferung zu ermöglichen, führte Ignatius die Rolle eines director espiritual ein, der die Übungen auswendig lernen musste und die Übenden (eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe) bei ihren Meditationen anleitete.1 Wenn wir die Exerzitien heute aufschlagen, dann begegnen wir einem Text, den...